Hoch bewerteter Mittelstand

M&A im Zeichen der Pandemie

Corona stellt die Welt nun schon lange in vielen Bereichen auf den Kopf. Dabei gibt es außer den negativen Erfahrungen auch Beispiele dafür, wie die Pandemie als Katalysator dringend notwendigen Wandel massiv beschleunigt. So liegen wir in der Digitalisierung zwar immer noch weit hinter den Klassenbesten, doch es geht immerhin in die richtige Richtung. 

Im Markt für M&A gab es nur einen kurzfristigen Effekt, als das Transaktionsgeschehen im März und im April 2020 völlig zum Erliegen kam. Ab dem Sommer ging es dann wieder aufwärts und im vierten Quartal gab es in einigen Branchen sogar mehr Deals als im Vorjahr. Außerdem fanden 28 Deals mit Transaktionsvolumina von über 1 Mrd. Euro statt, wobei in zwei Fällen sogar über 10 Mrd. Euro zu Buche schlugen; insgesamt mehr Mega-Deals als 2019!

Im ersten Quartal 2021 wurden weltweit 11.394 Transaktionen abgeschlossen, so dass das Jahresviertel über dem Vorkrisen-Niveau von 2019 liegt. Diese positive Entwicklung hat sich im zweiten Quartal 2021 fortgesetzt. Also alles in Ordnung und weiter wie gehabt? Die Antwort ist ein entschiedenes Jein! Corona spaltet die globale Ökonomie in zwei Gruppen: Einerseits in Unternehmen, die sich in der Krise behaupten oder sogar von ihr profitieren konnten. In diesem Lager sind sowohl Vertreter aus dem Bereich Digitalisierung und Software zu finden als auch Anbieter in den Sektoren Healthcare, Medien (z.B. Streaming-Dienste) und eCommerce. Auf der anderen Seite stehen der Maschinen- und Anlagenbau mit der Automobilindustrie, vor allem aber auch die Luftfahrt, die Gastronomie und die Touristik. Hier gab es 2020 kaum Deals ohne Restrukturierungsgrund. Trotzdem ist es zu eindimensional gedacht, die Entwicklung in den Branchen nur mit dem Einfluss der Pandemie zu erklären. 

Die strukturelle Krise in der Automobilindustrie hat nur bedingt mit den Auswirkungen von Corona zu tun. Im Vordergrund steht die Frage, warum Tesla, gemessen an der Marktkapitalisierung, mittlerweile der weltweit größte Automobilhersteller ist. Der Unternehmenswert ist fast doppelt so hoch wie der von VW, Daimler und BMW zusammen. VW produziert zwar zwanzig Mal mehr Autos als die Amerikaner, aber dafür ist Tesla nicht nur in innovativen Technologien wie der Elektromobilität und der Batterietechnik weiter vorn, sondern Tesla setzt auch konsequent auf die Digitalisierung. Nicht nur, dass die Fahrzeuge permanent Daten sammeln – sie sind auch vollkommen vernetzt. Während Besitzer anderer Marken für Updates noch in die Werkstatt müssen, erhalten Tesla-Kunden ihre Updates bequem online übermittelt. Anders als früher kommt es heute nicht mehr nur auf das beste Auto an. Mittlerweile zählt das ganze Hard- und Softwarepaket. 

Exemplarisch ist auch der Kampf gegen COVID an sich. Die Auswirkungen bekannter Wirkstoffe und Antikörper auf das Virus werden mit „Künstlicher Intelligenz“, „Big Data“ und Supercomputern wie „Summit“ oder „Sierra“ simuliert. Apropos Supercomputer: Mit dem Projekt „Folding@home“ wurde ein Computernetzwerk geschaffen, das nochmal deutlich mehr Leistung als die beiden Supercomputer zusammen generiert. Jeder einzelne Computernutzer kann dem Projekt Rechenleistung zur Verfügung stellen und so im Verbund eine gigantische Leistung erzeugen. Es kommt also nicht mehr darauf an, wer den stärksten Rechner besitzt, sondern wer die Vernetzung vieler kleiner Rechner in der „Cloud“ am besten organisiert. 

Die Richtigkeit dieser Erkenntnis beweist einer der größten Technologie-Deals der letzten Jahre eindrucksvoll. IBM erwarb für 34 Mrd. Dollar Red Hat, einen Softwarehersteller in Raleigh (North Carolina), der unter anderem eine populäre „Enterprise Linux“-Lösung vertreibt und am Fedora-Projekt beteiligt ist. Nicht nur der Kaufpreis war gigantisch, sondern auch die Tragweite des Deals, da sich IBM mit dieser Akquisition komplett wandelt und neu strukturiert. Aber was macht Red Hat so begehrenswert? Das Unternehmen bietet „Hybrid Cloud“-Technologien an, also Infrastrukturen für private und öffentliche „Cloud“-Computersysteme, und zwar vor allem auch zur Verteilung von Rechenoperationen zwischen Computern. IBM, im florierenden „Cloud“-Geschäft bisher ein Zwerg neben Amazon und Microsoft, wird damit plötzlich zu einem relevanten Player. Wie bedeutsam diese Entwicklung ist, zeigt sich auch in den Unternehmensbewertungen. Die zehn wertvollsten Unternehmen weltweit sind gegenwärtig Apple, Saudi Aramco, Microsoft, Amazon, Alphabet (Google), Facebook, Tencent, Alibaba, Tesla und Berkshire Hathaway. Der Großteil dieser illustren Gruppe gehört also dem Technologiesektor an.
 

Doch nicht nur die Digitalisierung beeinflusst die Zukunft stark. Es gibt viele weitere Trends, die das M&A-Geschehen nachhaltig verändern werden. Die Energiewende, die Automatisierung, aber auch die Revolution im Agrarbereich („Digital Farming“ und „Vertical Farming“) schütteln unsere Industrien ungeachtet von Corona durch. Dabei spielen neue Technologien zwar auch eine wichtige Rolle, doch vor allem geht es um die Stärkung der Innovationskraft, um in dieser sich schnell verändernden Umwelt mitzuhalten.

In Deutschland gibt es diesbezüglich viel Licht und Schatten. Im Innovationsindex von Bloomberg, der die fortschrittlichsten Länder anhand verschiedener Kriterien ermittelt, steht Deutschland aktuell auf Platz 3, während es 2020 sogar die Spitzenposition hatte. Indessen wiesen unter anderem Kanzlerin Merkel und die Bertelsmann Stiftung darauf hin, dass nur ein Viertel der deutschen Unternehmen die nötige Innovationkompetenz und die Innovationskultur besitzt, um langfristig zu bestehen. So hat sich fast die Hälfte der Unternehmen in den letzten Jahren zu wenig verändert, um sich entscheidend von ihrer Konkurrenz abzuheben. Dabei wird zwar weiterhin viel in Forschung und Entwicklung investiert, aber wir haben zu wenige Technologieführer und disruptive Innovatoren. Gerade der Mittelstand braucht unbedingt Unterstützung und förderliche politische und administrative Rahmenbedingungen.

Ganz neu ist diese Situation jedoch nicht: Um die Jahrtausendwende gab es schon einmal eine Blase. Die „New Economy“ war auf ihrem Höhepunkt und solange die Worte Internet oder Software in Börsenprospekten standen, waren hohe Bewertungen garantiert. Die Entwicklung der „New Economy“ zeigte aber auch, wie fehlgeleitet Börsen agieren können. Stehen wir nun also wieder vor einer Blase? Einiges spricht dafür. Die Politik des günstigen Geldes ist aus Sicht des Staates rational. Aber negative Zinsen karikieren nicht nur wichtige volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Prinzipien. Sie erzeugen auch mehrfachen Druck auf die Unternehmensbewertungen. Einerseits fallen Anlageklassen wie Staatsanleihen zunehmend wegen negativer Renditen aus. Andererseits ist Geld sehr billig, so dass der Markt sehr liquide ist. In dieser Situation besteht hoher Anlagedruck von Finanzinvestoren, die wiederum untereinander um die besten „Assets“ (Unternehmen) konkurrieren, was die Preise weiter treibt. Dabei sehen wir in Deutschland nicht dieselbe Entwicklung wie an den internationalen Börsen. Während der DAX in den letzten fünf Jahren um gut 50 % stieg, gilt das nicht für die Bewertungen im Mittelstand. Die Preise legen hier zwar auch stetig zu, doch industrieübergreifend noch nicht kritisch. Tatsächlich werden mittelständische Technologie-Unternehmen ebenfalls mit dem zehn- bis fünfzehnfachen ihres EBITDA oder noch höher bewertet, doch diese Zahlen stützen sich auf solides, auch nachhaltiges Wachstum in einem sich stark verändernden Wettbewerb. Analogkameras wurden von Digitalkameras verdrängt, die wiederum vom Handy abgelöst wurden. Wenn es funktioniert, sind die hohen Bewertungen also gerechtfertigt. Schwierig ist nur, wie immer, die Spreu vom Weizen zu trennen.

Autor Jan P. Hatje ist Vorstandsmitglied von Oaklins Germany und leitet die Teams IoT und Technology. Er verfügt über mehr als 15 Jahre M&A- 
Erfahrung, speziell in den Sektoren TMT und Personal.

www.oaklins.com